Mehrwertsteuerabzug außerhalb der Frist
Der Europäische Gerichtshof zeigt sich stets flexibler, was die formalen Bedingungen des Rechts auf Abzug anbelangt. In zwei neueren Urteilen entschied der Gerichtshof, dass der Mehrwertsteuerabzug oder die Rückgabe nicht ohne Weiteres verweigert werden kann, wenn sie außerhalb der normalen Frist ausgeübt werden.
Abzug und Rückgabe
Die Mehrwertsteuer, die ein Mehrwertsteuerpflichtiger im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit bezahlt, kann er zurückverlangen. Die Mehrwertsteuer darf schließlich keine Ausgabe für die Unternehmen sein. Es ist allein der Endverbraucher (der Konsument), der die Steuer trägt.
Der Mehrwertsteuerpflichtige kann die von ihm bezahlte Mehrwertsteuer zurückerhalten:
durch den Mehrwertsteuerabzug in dem Mitgliedstaat, in dem die Mehrwertsteuer bezahlt wurde und in dem der Mehrwertsteuerpflichtige niedergelassen ist;
durch Beantragung der Rückgabe in dem Mitgliedstaat, in dem der Mehrwertsteuerpflichtige tätig ist, aber nicht niedergelassen ist und nicht bei der örtlichen Mehrwertsteuerverwaltung registriert ist.
Materielle und formale Bedingungen
Der Mehrwertsteuerabzug und die Rückgabe unterliegen materiellen und formalen Bedingungen.
Die materielle Bedingung: die Waren/Dienstleistungen werden für die Verrichtung von steuerpflichtigen Handlungen verwendet. Z. B. schafft ein Elektriker Werkzeug an. Die Mehrwertsteuer, die er auf das Werkzeug bezahlt hat, kann er absetzen, denn er verwendet es für seine wirtschaftliche, steuerpflichtige Tätigkeit.
Die formale Bedingung: der Mehrwertsteuerpflichtige hat vollständige und ordnungsgemäße Rechnungen und übt sein Recht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen aus. Der Gerichtshof hat früher bereits entschieden, dass ein Steuerpflichtiger, der zwar alle materiellen Bedingungen erfüllt, aber über eine unrechtmäßige Rechnung verfügt, trotzdem Recht auf den Abzug der Mehrwertsteuer hat. Ein kleiner formaler Mangel macht also nichts aus. Dies wird auch wirtschaftliche Betrachtungsweise bzw. Substance over form genannt.
Rechtzeitige Ausübung des Abzugsrechts
Das Gesetz schreibt besondere Verfallfristen vor.
Für den Rückgabeantrag hat der Steuerpflichtige eine Frist bis zum 30. September des darauffolgenden Jahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die zurückverlangte Mehrwertsteuer fällig geworden ist. Das Abzugsrecht kann ein Mehrwertsteuerpflichtiger bis zum Ablauf des dritten Kalenderjahres ausüben, das auf das Jahr folgt, in dem die abzusetzende Mehrwertsteuer fällig geworden ist.
Bisher lautete die Regel, dass ein Mehrwertsteuerpflichtiger, der diese Frist verstreichen lässt, sein Recht auf Abzug/Rückgabe verliest.
Problem durch Kombination von materiellen und formalen Bedingungen
Da ein Steuerpflichtiger sowohl die materiellen als auch die formalen Bedingungen einhalten muss, kommt es häufig vor, dass das Abzugsrecht materiell bereits entstanden ist (zum Zeitpunkt, zu dem die Mehrwertsteuer fällig wird), aber dass er sein Recht noch nicht ausüben kann, weil er noch keine Rechnung erhalten hat. Die Verfallfrist beginnt dann bereits zu laufen, aber der Mehrwertsteuerpflichtige kann sein Recht noch nicht effektiv ausüben.
Der Gerichtshof nuanciert
In zwei neueren Urteilen nuanciert der Gerichtshof diese strikte Regel. In beiden Fällen waren Steuerpflichtige zu spät mit der Ausübung ihres Rechts auf Abzugs/Rückgabe. Das war jedoch nicht ihr eigener Fehler. Ihre Lieferanten hatten nicht genug oder überhaupt keine Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt. Erst einige Jahre (nach der Lieferung) bringen sie dies in Ordnung, indem sie (zusätzliche) Mehrwertsteuer verlangen und eine korrigierte Rechnung nachsenden. Die Steuerpflichtigen konnten also praktisch ihr Abzugsrecht nicht eher ausüben.
Der Gerichtshof erklärt an erster Stelle, dass er kein Problem mit Verfallfristen an sich hat. Aber auch das Rechtssicherheits- und das Effektivitätsprinzip sind wichtig. Das bedeutet, dass die vorgeschriebenen Fristen es dem Mehrwertsteuerpflichtigen nicht unmöglich oder äußerst schwierig machen dürfen, sein Recht auf Abzug/Rückgabe auszuüben.
In den Fällen, die dem Gerichtshof vorgelegt wurden, hatten die Steuerpflichtigen keine Chance, ihr Recht auszuüben. Das Verfalldatum war zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eine vollkommen korrekte Rechnung erhielten, schließlich schon vorbei. Die Mehrwertsteuerpflichtigen müssen deshalb die Möglichkeit erhalten, die Mehrwertsteuer nachträglich zurückzuerhalten. Es darf allerdings kein Missbrauch durch die Steuerpflichtigen vorliegen. Und, noch eine wichtige Ergänzung, dem Steuerpflichtigen muss es objektiv unmöglich gewesen sein, sein Abzugsrecht früher auszuüben.
Was bedeutet dies in der Praxis?
Steuerpflichtige, die (zu) spät eine korrigierte Rechnung erhalten, können trotzdem noch ihre Mehrwertsteuer absetzen. Und für Lieferanten wird es einfacher sein, die Mehrwertsteuer, deren Anrechnung sie vergessen haben und die vom Finanzamt nachgefordert wird, nachträglich ihrem Kunden zu belasten (der diese Mehrwertsteuer trotzdem noch absetzen darf).
Und der Gesetzgeber?
Es wäre eine gute Idee, sollte der Gesetzgeber über eine Gesetzesänderung nachdenken, um die Regeln besser auf den Standpunkt des Gerichtshofs abzustimmen.